Frühmorgens, 7 Uhr, Schweiz.
Die S29 nach Winterthur ist voll mit Pendlern.
Sagt mal, stinke ich?
Sehe ich aus, wie ein gesuchter Verbrecher? Wie die
Diamantendiebe etwa?
Verwechseln die mich mit M13? Der ist doch jetzt tot!
Oder habe die anderen Passagiere gestern Knoblauch gegessen
und wollen mich nur verschonen?
Jeden Morgen beobachte ich das Phänomen aufs Neue: Die
meisten Leute stehen lieber für die halbe Zugfahrt, als dass sie sich direkt
neben einen Fremden setzen. Ihr müsst verstehen, unter Umständen Oberschenkel
an Oberschenkel neben jemandem zu sitzen, das ist schon sehr intim. Da steht
man lieber. Verstehe ich.
Nein, verstehe ich eben genau NICHT! Ich bin unglaublich
froh, wenn ich im Pendlerverkehr einen Sitzplatz erhasche und bin mir auch
nicht zu fein, mich zwischen zwei Leute zu setzen oder zu fragen, ob denn „da
no frei isch“.
Vielleicht haben mich meine sechs Monate in London auch
abgehärtet. Dort gleicht der Zug am Morgen einem Schlachtfeld.
Kommt man in den Zug, dann hat man sicherlich keinen
Sitzplatz. Es sei dann, man steigt bei der ersten Station ein. Während der
Zugfahrt blicken die stehenden Passagiere immer wieder voller Sehnsucht zu den
vollen Sitzplätzen. Nicht nur um zu träumen, im Gegenteil. Man beobachtet die
Mitfahrenden um zu eruieren, welcher von ihnen als nächstes wohl aussteigen
wird, sodass man sich auf den freien Platz stürzen kann. Serious business.
In der Schweiz läuft das eher so ab:
Herr oder Frau Schweizer betritt den Zug. Okay, kein freies
Abteil. Und auch nicht Platz genug, damit zwischen mir und dem Mitreisenden
noch ein leerer Platz wäre. Mist. Ich könnte fragen, ob dieser junge Herr seine Tasche vom eigentlich freien Sitz nehmen könnte, oder... nein. Ich glaube, ich
stehe lieber.
Und mittendrin sitze ich, schaue zum freien Platz zu meiner
Rechten, dann zum leeren Sitz neben der Dame, die gegenüber von mir sitzt, und
frage mich, ob wir Schweizer uns mit unserer berühmtberüchtigten Höflichkeit schlussendlich
selber schlagen.